Das Ah & Oh im April
Texte von Claudia Kottisch, Hannah Lenz, Axel Göttsch und Sannah Wagner
Der Trick von Emanuel Bergmann (empfohlen von Claudia)
Ein Debüt wie aus dem Hut gezaubert: Emanuel Bergmann schreibt über die verloren gemeinte Magie eines Lebens und die Möglichkeit jene wieder zu entdecken. 2007: Der einst so große Zauberer Zabbatini ist des Lebens müde. Verbittert wartet er auf sein Ende. Doch statt des Todes klopft der zehnjährige Max Cohn, dessen Eltern sich gerade scheiden lassen wollen, an seine Tür. Denn als der Junge eines Tages auf einer alten Schallplatte den „Spruch der ewigen Liebe“ entdeckt, scheint die Rettung der Ehe greifbar. So kommt es, dass sich der hoffende Max auf die Suche nach dem berühmten Zauberer macht, und dabei auf den mürrischen Alten trifft.
In zwei parallel erzählten Strängen verfolgt der Leser zum einen die Geschichte vom jungen Mosche Goldenhirsch während des zweiten Weltkrieges, der den Zirkus kennen- und lieben lernte und dadurch zum großen, gefeierten Zauberer Zabbatini wurde. Zum anderen wird die Odyssee des Max Cohn beschrieben, der im heutigen Los Angeles mit Hilfe von Zauberei und des nun alten, verbitterten Großen Zabbatini die Ehe seiner Eltern retten will und dabei nicht nur das Herz des Lesers erobert. Ein bewegendes Buch, erzählt mit viel Wortwitz und treffenden, tiefsinnigen leisen Tönen, über das verwobene Schicksal zweier unterschiedlicher Leben. Der Roman „Der Trick“ von Emanuel Bergmann ist ein lesenswertes, gelungenes Erstlingswerk.
Erschienen bei Diogenes, 395 Seiten, gebunden, 22,- Euro
Mr. Gwyn von Alessandro Baricco (empfohlen von Hannah)
Nach der Lektüre von „Seide“ vor vielen Jahren, ist mir kein weiteres Buch von Alessandro Baricco begegnet, welches derart DICHT von „der Essenz“ spricht. Im Roman „Mr.Gwyn“ geht es um das Leben, um die Essenz von Leben und Liebe! So euphorisch ich damit meine kleine Rezension benamse, so wunderbar sicher dürfen wir Leser uns in der Gewissheit wiegen, dass das Geheimnis nicht allzu schnell gelüftet werden wird! Wahrlich, ein Genuss! Der Lese-Gourmet kommt hier ebenso auf seine Kosten, wie der heimliche Philosoph.
Jasper Gwyn steht mitten in einem erfolgreichen Schriftstellerleben, als bei ihm Ekel und Müdigkeit auftauchen und er seiner beruflichen Aufgabe zu entkommen versucht. Sein Verleger und einziger Freund Tom sieht das anders und versucht Jasper auf seiner Erfolgsspur zu halten. Der aber sucht sich eine riesige, heruntergekommene Halle, die er minimalistisch ausstattet. Glühbirnen, von einem Magier dieses Faches – ich hatte allerdings noch nie vorher von einem privaten Glühbirnenhersteller gehört – tauchen diesen Raum in geheimnisvolles Licht, welches eine exakte Zeit lang brennen soll. Mr.Gwyn will Kopist sein, von Menschen Porträts schreiben. Diese Porträts sind allerdings Geschichten, formvollendete Metaphern, deren Botschaften das Leben der Porträtierten zu beeinflussen vermag. Das Procedere ist ungewöhnlich: die einzelnen „Modelle“ sind die Auftraggeber, zahlen horrende Summen, und lassen sich auf einen ungewöhnlichen Voyeurismus ein. Doch gerade als Tom ein neues Geschäft wittert, verschwindet Mr.Gwyn von der Bildfläche.
Wenn die Lektüre beendet ist, muss man sofort von vorne anfangen zu lesen, denn das Geheimnis dieser Texte – es sind zwei, in Italien einzeln herausgegebenen kurze Romane-erschließt sich nur auf einer tieferen Ebene. Das Tages-Lese-Bewusstsein schwelgt – und man versteht…NICHT. Und doch! Welch eine Befriedigung, oder sollte ich Befriedung schreiben?!
Erschienen bei Hoffmann und Campe, 315 Seiten, gebunden, 22,- Euro
Vom Ende der Einsamkeit von Benedict Wells (empfohlen von Sannah)
„Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“
Jules und seine Geschwister werden durch den frühen Tod der Eltern aus der warmen Geborgenheit einer intakten Familie in die kalte Welt eines staatlichen Internats katapultiert. Diese drei, so unterschiedlichen, Menschen verlieren sich selbst und die anderen im Kampf um den passenden Platz im neuen Leben aus den Augen. Doch der Ich-Erzähler Jules trifft auf Alva, eine externe Schülerin, die ihm, ohne große Worte zu machen, Halt gibt. Eine Idee von Glück, von Perspektive deutet sich an, als die Beiden anfangen, gemeinsam über das Leben nach dem Abitur nachzudenken, doch am Ende geht jeder seiner Wege und Jules treibt durch ein Leben, das vor allem davon geprägt ist, die Vergangenheit nicht hinter sich lassen zu können. Erst als Alva zehn Jahre später wieder in sein Leben tritt, scheint sich etwas in ihm zu verschieben.
Der erste Roman, den ich von Benedict Wells las, war „Fast genial“. Beeindruckt hatte mich damals vor allem die federleichte, mit nur wenigen Worten Szenen dahintuschende Sprache. Er nahm mich damit an die Hand, konnte mir alles verkaufen, hinterließ Bilder, so prägnant, dass ich sie auch Jahre später noch präzise abrufen kann. Jedoch hatte mir bei dem Roman dieser eine nicht zu benennende Aspekt gefehlt, der ein sehr gutes Buch zu einem bewegenden macht. Mit „Vom Ende der Einsamkeit“ hat Benedict Wells nun diesen Schritt vollzogen. Da ist Jules, dieser 11-jährige Junge, wild, zuversichtlich, mutig bis hin zum Leichtsinn, der alle Möglichkeiten noch in sich zu tragen scheint und einen Autounfall später ist nichts mehr davon übrig. Auch seine Schwester, Liz, verliert sich, doch scheint dieser Zug der Ruhelosigkeit schon immer in ihr angelegt zu sein. Ausgerechnet Marty, der Sonderling, der nie so recht in die Familie zu passen schien, ist der Erste, der seinen Frieden mit dem Schicksal macht, der seinen Weg geht und für seine durchs Leben taumelnden Geschwister eine Art Zuhause wird. Und dann ist da ja noch Alva – die wilde, schöne Alva.
Die von Wells entworfenen Szenen und Sätze treffen stellenweise bis ins Mark, lassen einen innehalten, mitfühlen – und ja, manchmal auch weinen. So viel Leben ist in diesen 355 Seiten, so viel Liebe, so viel Leid, doch trotz mancher Gratwanderung gelingt es dem Autor, sich vom Kitsch fernzuhalten. Dies ist auch seinen knappen, schnörkellosen Sätzen zu verdanken, die selbst in Abschnitten innerster Einkehr nie an Klarheit verlieren. Stattdessen entfalten sich Bilder und Gedanken in ihrer ganzen Schönheit.
„Ich zog dem Schicksal die Maske vom Gesicht und fand darunter nur den Zufall“
„Vom Ende der Einsamkeit“ berührt. Und es versöhnt – auch mit dem eigenen Leben.
Erschienen bei Diogenes, 355 Seiten, gebunden, 22,- Euro
Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie von Sacha Batthyany (empfohlen von Claudia)
Mit der Frage „Und was hat das mit mir zu tun?“, die auch der gleichnamigen Titel seines Buches ist, begibt sich der Schweizer Journalist Sasha Batthyany nicht nur auf die Suche nach der Geschichte seiner Familie, es wird auch eine Suche nach sich selbst. Ein unfassbares Verbrechen löst seine letztlich sieben Jahre andauernde Recherche aus: 1945, kurz vor Eintreffen der Roten Armee in Ungarn, richtet seine Tante, Gräfin Margit von Batthyány-Thyssen, auf ihrem Anwesen Schloss Rechnitz im Burgenland ein opulentes Fest aus. Unter den Gästen: örtliche Größen der Waffen-SS und der Hitler-Jugend. In dieser Nacht werden 180 jüdische Zwangsarbeiter in eine Scheue getrieben und von den anwesenden Gästen hingerichtet.
Schonungslos und persönlich wird Battyanys Suche nach Antworten, nach Verwandten, nach sich selbst. Zunächst richtet sich seine Recherche allein auf die Verwandte und deren Schuldfrage. Der Autor stellt Nachforschungen an, recherchiert; spricht mit Zeitzeugen. Lässt sich niemals abwimmeln. Dieses Buch geht jedoch weit über die Fragestellung nach der Schuld beispielsweise der Tante oder der Großeltern hinsichtlich der Verbrechen hinaus. Die eingangs saloppe Frage „Und was hat das mit mir zu tun“, wird mit jeder Seite mehr und mehr zu einer persönlichen. Sie macht Batthyany zum „Kriegsenkel“, lässt ihn plötzlich viele seiner eigenen Taten und von ihm betitelten Eigen- und Unarten hinterfragen: „Was macht mich zu dem Menschen, der ich heute bin? In welchem Kontext stehen die Folgen der Gräueltaten und deren Totschweigen mit meiner eigenen Persönlichkeit?“ Mutig, beharrlich und unnachgiebig geht der Autor seinem Erbe nach und schafft ein wichtiges Werk, das die Geschichte in die Gegenwart holt. Absolut lesenswert – sowohl inhaltlich, als auch sprachlich.
Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 254 Seiten, gebunden, 19,99 Euro
In the Pines – 5 Murder Ballads von Erik Kriek (empfohlen von Axel und Sannah)
Mit “In the Pines” widmet sich der holländische Comiczeichner Erik Kriek einem Stück amerikanischer Musikgeschichte. Die „Murder Ballads” sind ein fester Bestandteil der traditionellen Folkmusik, die auch aus der populären Musik der letzten 100 Jahre kaum wegzudenken ist. Man denke an Nick Cave, Bob Dylan, Johnny Cash, Lyle Lovitt oder The Handsome Family, um nur einige Beispiele zu nennen. Den Geschichten, die in den Songs weitergetragen werden, liegt immer ein Mord zugrunde, der am Ende gesühnt wird. Perspektive und die Frage der Schuld variieren jedoch.
„In the Pines“ versammelt fünf solcher Balladen, in denen verfluchte Schiffe, Räuberbanden, Prostitution, Betrug und Liebe ebenso thematisiert werden wie Rassentrennung, Lynchjustiz, Bürgerkrieg oder der erste Weltkrieg. Erik Krieks schattenrissartige Zweifarb-Technik fängt perfekt die dunkle Dramaturgie der Balladen ein. Dabei zeigt er sein ganzes Talent der szenischen Komposition. Perspektivwechsel, Sprechblasen aus dem Off, während ein angsterfülltes Gesicht das komplette Bild einnimmt, distanzierte Draufsicht in Erwartung, dass sich jederzeit ein Schuss aus der Pistole lösen kann…
Erik Kriek bespielt die Räume, die er durch die Bilder aufmacht, auf jeder Ebene. Subtil führt er den Leser durch die Szenen, die an alte Filme erinnern, und lässt so die ganze Noir-Atmosphäre dieser Geschichten wirken. Sehr interessant auch das Nachwort des Musikjournalisten Jan Donkers und die CD mit den fünf Folksongs, auf denen die Geschichten basieren, plus dem titelgebenen Song. „In the Pines“ – ein unbedingter Tipp für alle, die gern das Dunkle ergründen, um das Helle zu sehen.
Erschienen bei Avant-Verlag, 127 Seiten, gebunden, CD, 24,95 Euro
Nur drei Worte von Becky Albertelli (empfohlen von Sannah)
Simon hat keine Ahnung, wer Blue ist. Und doch hat er das Gefühl, ihn schon eine Ewigkeit zu kennen. Die Emails, die sie sich seit einigen Wochen schicken, werden immer vertrauter. Umso fataler, als die Nachrichten in falsche Hände gelangen und Simon erpresst wird. Er soll für einen Jungen gut Wetter bei einer seiner Freundinnen machen, sonst wird die ganze Schule erfahren, dass er schwul ist. Als sich jedoch zeigt, dass sich Gefühle nicht erzwingen lassen und Simon die Forderungen seines Erpressers nicht erfüllen kann, setzt er alles auf eine Karte.
„Nur drei Worte“ ist eines der besten Jugendbücher, dass ich bisher zum Thema Homosexualität und Coming-Out lesen durfte (okay, nach „Aristoteles und Dante“ von Benjamin Alire Saenz). Geschrieben mit der sensiblen Leichtigkeit eines John Green, nutzt Becky Albertelli die Möglichkeit, unterschiedliche Themen wie erste Liebe, Coming-Out, Mobbing, Freundschaft und Familie zusammenzutragen, ohne die Geschichte zu überfrachten. Stattdessen schafft sie eine Vielschichtigkeit, die diesem Thema mehr als gerecht wird. Denn auch wenn jeder Aspekt im Leben eines Jugendlichen für sich stehen kann, so greifen sie doch oft ineinander – in dieser Geschichte ebenso wie im realen Leben.
„Das ist eine scheißgroße Sache, okay? Das alles sollte allein – das alles sollte mir gehören. Ich sollte entscheiden dürfen wann und wo und wer was erfährt und wie ich es sagen will!“
Tatsächlich ist „Nur drei Worte“ aber vor allem eine wundervolle und spannende Liebesgeschichte – lange weiß man nicht, wer sich hinter dem geheimnisvollen Blue verbirgt. Becky Albertelli lässt Simon und Blue nicht an der Richtigkeit ihrer Gefühle zweifeln. Stattdessen lässt sie die Beiden die klassische Unsicherheit und Aufgeregtheit der ersten Liebe erleben. Und das berührt – so wie eben nur die erste Liebe berühren kann.
Erschienen bei Carlsen, 315 Seiten, gebunden, 16,99 Euro (ab 14)