Liebe Alle,

an dieser Stelle findet ihr unsere ersten „Ahs & Ohs“ – ganz persönliche und ausführliche Empfehlungen von allen Teammitliedern unserer Buchhandlung.

110Der Besuch von Hila Blum (empfohlen von Claudia)

Die aus Jerusalem stammende Hila Blum lebt, nach längeren Aufenthalten in Paris und New York, heute wieder in Israel. Die Stationen ihres bisherigen Lebens dienen als Schauplatz für ihren ersten Roman, in dem die Geschichte einer Familie im heutigen Israel erzählt wird. Nati und Nili leben zusammen mit ihren Töchtern ein alltägliches Familienleben. Neun Jahre sind seit jener tragikomischen Nacht vergangen als der französische Millionär Jesaja Duclos dem Ehepaar während eines Urlaubs finanziell aus einer Notlage half. Duclos offenbarte Nili in jener Pariser Nacht etwas, dass sie Nati nie erzählt, und dass sie bis heute nicht losgelassen hat. Die gedankliche Rückblende, die die Ankündigung Duclos nach all den Jahren in Nili auslöst, lässt sich als zentralen Handlungsstrang des Romans ausmachen: Der Anruf beschwört in Nili Erinnerungen herauf, die sie bisher verdrängt und unter Verschluss gehalten hatte. Sie beginnt ihre Ehe, sich selbst und ihre Vergangenheit zu reflektieren und zu hinterfragen. Szenisch in den Zeiten springend deckt Hila Blum nach und nach Zusammenhänge und Geheimnisse auf.
Wortgewaltig und einfühlsam zeichnet die Autorin ein modernes Familienportrait in einem politisch zerrütteten Land. „Der Besuch“ ist kein kurzweiliges Lesevergnügen. Es ist ein spannender Roman, auf den man sich einlassen muss. Die poetischen, anspruchsvollen Satzgebilde fordern den Leser oftmals. Belohnt wird er mit einer feinsinnig erzählten Familiengeschichte, die in die Tiefe geht. Erschienen im Berlin Verlag Taschenbuch, 416 Seiten, broschiert, 9,99 Euro

111Tomatenrot von Daniel Woodrell (empfohlen von Sannah)

West Table in den Ozarks: Der junge Herumtreiber Sammy trifft bei einem Einbruch in eine Villa auf die Geschwister Jamalee und Jason, die die gleiche Idee hatten. Sie tun sich zusammen, Sammy wird zu dem Beschützer der beiden Geschwister, die ihn wiederum bei sich und ihrer Mutter Bev im Trailerpark aufnehmen. Bev, mit der Sammy prompt eine Affäre beginnt, hält sich mit Prostitution über Wasser, die Geschwister tragen mit Einbrüchen zur Haushaltskasse bei. Das alles reicht gerade so. Die Gewalt, der sie ausgesetzt sind und eine Polizei, die kein Problem damit hat, wegzuschauen, wenn das Geld stimmt, lässt den Wunsch nach einem besseren Leben an einem anderen Ort nicht erlöschen. Und das Ticket aus dem Trailerpark soll, wenn es nach Bev geht, der wunderschöne junge Jason sein. Als der eines Nachts Tod aufgefunden wird, ist es dem Sheriff 5000 Dollar wert, wenn Jasons Familie die Dinge auf sich beruhen lässt. Doch jetzt erwacht in Sammy wirklich der Beschützer – und die Dinge laufen vollends aus dem Ruder.
Daniel Woodrell wuchs in den Ozarks auf und lebt heute mit seiner Familie wieder dort. Dieser Landstrich, der sich über Teile von Arkansas, Missouri, Kansas und Oklahoma erstreckt, ließ ihn nie los. Woodrell gilt als Begründer des Country-Krimi-Noir und seine Heimat, geprägt von großem sozialen Gefälle, Korruption und dem sogenannten White Trash, dient wiederholt als Bühne seiner Geschichten – der Roman „Winter’s Bone“ wurde erfolgreich verfilmt. Tatsächlich stellt er dieser „dunklen“ Welt eine Sprache an die Seite, die authentisch, sehr präzise und in ihrer Schonungslosigkeit manchmal regelrecht schön ist.
Ein Ort von diesem Kaliber entlarvt dich als Versager und bringt dich dazu, dass du dich selbst diskriminieren willst als winziges Staubkörnchen Nichts, das nur den Planeten durcheinanderbringt, auf dem diese würdigen Vertreter so prachtvoll leben und sich wünschen, sie könnten dich und deinesgleichen fernhalten. Ich bin kein Abschaum! Ich bin kein Abschaum!, schreit dein Hirn unentwegt, doch dieser Ort beweist es.“
Und genauso verhält es sich mit „Tomatenrot“. So hart, so bitter die Tatsache der herkunftsbedingten Chancenlosigkeit auch ist, so beeindruckend ist Sammys, Jamalees, Jasons und Bevs mangelnde Bereitschaft, sich leise in diese Rolle einzufügen. Stattdessen arbeiten sie an der Verwirklichung immer neuer Pläne – wie unwahrscheinlich eine erfolgreiche Umsetzung auch sein mag. Erschienen im Liebeskind Verlag, 221 Seiten, gebunden, 20 Euro

113Eternauta von Héctor G. Oesterheld (empfohlen von Sannah)

Der „Eternauta“ Juan Salvo sitzt 1963 mit Freunden und Familie in seinem Haus in Buenos Aires zusammen, als es zu schneien beginnt. Dieser Schnee ist giftig und tötet jeden, der damit in Berührung kommt. Der Schnee ist eine Waffe, von Außerirdischen verwendet, die Erde zu erobern. Juan Salvo und seine Freunde basteln sich Schutzanzüge und nehmen den aussichtslosen Kampf gegen die Übermacht in den Straßen von Buenos Aires auf. Als sich zeigt, dass sie keine Chance haben, will Salvo sich und seine Familie retten, indem er sie mit einem Raumschiff von der Erde wegbringt, doch er verwechselt die Knöpfe und alle werden in Raum und Zeit verstreut. So beginnt Salvos Odyssee auf der Suche nach seinen Lieben.
Die Graphic Novel „Eternauta“ ist in Argentinien ein Klassiker. 1957 das erste Mal als Fortsetzungsgeschichte in der vom Autor und Verleger Oesterheld veröffentlichten Comiczeitschrift „Hora Cero“ erschienen, wurde sie jahrelang ohne Unterbrechung weitererzählt. Die Handlung, ein Genre-Mix aus Genres wie Science-Fiction, Kriegshandlung, Apokalypse und Zeitreise, war vor allem innovativ, weil sie mit Buenos Aires einen realen Handlungsort hatte. Die Berühmtheit, die „El Eternauta“ in Argentinien auf lange Sicht erlangte, hängt jedoch, neben der ungewöhnlichen Geschichte und dem Handlungsort, vor allem mit der fast prophetischen Bedeutung zusammen:
20 Jahre nach dem ersten Erscheinen von „Eternauta“ geht der Autor Hector Oesterheld in den Untergrund, um gemeinsam mit seinen vier Töchtern soziale Missstände und die Militärdiktatur, die sich 1976 in Argentinien an die Macht geputscht hatte, zu bekämpfen. Diese geht mit unvorstellbarer Gewalt gegen den Widerstand vor und es verschwinden zehntausende Menschen spurlos. Auch Oesterheld und seine Töchter.

Zurück bleiben seine Frau Elsa und die beiden Enkel Martin und Fernando. Ihr Leben ist fortan geprägt von der Suche nach Antworten und, in Elsas Fall, den Erinnerungen an bessere Zeiten. Diese drei Menschen und ihr Trauma stehen für das Trauma so vieler Familien in Argentinien. Sie alle sind gefangen in der Suche nach ihren Verwandten, den „Desarapecidos“ – den Verschwundenen. Kaum eine literarische Figur spiegelt dieses Gefühl so gut wider, wie Juan Salvos, der Mann, dessen Suche nach seiner Familie durch Raum und Zeit führt. Die Graphic Novel „Eternauta“ ist nicht mehr zu trennen von dem Schicksal seines Autors und dessen Familie. Entsprechend liest sie sich nicht nur als gute Science-Fiction-Story – sie ist darüber hinaus sowohl Prophezeiung als auch Erinnerung an ein Stück Geschichte, dass Argentinien bis heute nicht loslässt. Erschienen im Avant-Verlag, 392 Seiten, gebunden, 39,95 Euro

115Das Nest von Kenneth Oppell (empfohlen von Axel)

. „Als ich sie zum ersten Mal sah, hielt ich sie für Engel.” So beginnt die Geschichte, um einen Jungen, der vielleicht alles tun würde, um seinem Bruder zu helfen. Eine Geschichte so feinfühlig, poetisch und klar, wie ich schon lange keine gelesen habe.

Steve hat es gerade nicht leicht. Das Baby, Steves kleiner Bruder, ist sehr krank. Daher verbringen seine Eltern viel Zeit im Krankenhaus. Als ein Wespenvolk ausgerechnet ihr Nest unter dem Dachüberstand, direkt über dem Zimmer des Babys zu bauen beginnt, träumt Steve von einer Wespenkönigin, die behauptet, sie könne seinen kleinen Bruder „reparieren“. Soll sich Steve wirklich auf die Wespenkönigin einlassen? Meint sie es gut mit seinem Bruder? Aber es handelt sich ja schließlich auch nur um einen Traum, oder?

Das Nest handelt von Geschwisterliebe, stellt die Frage nach dem Wert von Perfektion, zeigt, dass der erste Eindruck nicht immer der richtige sein muss und ist die Geschichte eines ängstlichen Jungen, der in dem Moment, in dem es darauf ankommt, zum mutigsten Jungen der Welt wird. Sprachlich eindrucksvoll, doch für Kinder gut verständlich, schildert Kenneth Oppel die Ereignisse aus der Sicht des Jungen. Sätze wie „Ich spüre wie sich großer Kummer in mir breitmachte, als hätte ich tief Luft geholt und wüsste plötzlich nicht mehr, wie ich sie ausatmen sollte.“, zeigen wie gut es Oppel gelungen ist, den kindlichen Ton zu treffen und durch eine, bei aller Einfachheit, ungewöhnlich dichte Sprache zu berühren. Die fast schattenrissartigen Illustrationen des Jugendbuchpreisträgers Jon Klassen unterstreichen eindrucksvoll die Stimmung der Geschichte.

Das Nest – ein spannendes und außergewöhnliches Buch, das mich vom ersten bis zum letzten Satz in seinen Bann gezogen hat. Empfohlen wird es zwar ab zehn Jahren, ich glaube aber, für dieses Buch kann man nicht zu alt sein. Erschienen bei Dressler Cecilie, 217 Seiten, gebunden, 12,99 Euro (ab 10)

112Nur ein Tag von Martin Baltscheit (empfohlen von Axel)

Fuchs und Wildschwein sitzen gemütlich auf ihren Klappstühlen am Ufer des Sees und frühstücken. Sie schauen einer kleinen Eintagsfliege beim Schlüpfen zu. Die kleine Fliege ist so wunderschön und süß, dass Fuchs und Wildschwein es nicht übers Herz bringen, ihr zu sagen, dass sie nur einen Tag zu leben hat. Das stimmt die Beiden sehr traurig. Um der kleinen Fliege diese Traurigkeit zu erklären, behauptet das Wildschwein, dass es der Fuchs sei, der nur noch einen Tag zu leben habe. Also beschließt die Fliege, diesen Tag zum allerschönsten Tag zu machen, den der Fuchs je erleben durfte. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach dem Glück.
Nach dem Hörbuch und dem Theaterstück ist diese hinreißende Geschichte über eine große Freundschaft, Verlust und den Kreislauf des Lebens auch in Druckform erschienen. Eine Geschichte darüber, wie süß das Leben doch sein kann und wieviel man verpasst, wenn man sich zu sehr grämt. Es ist eine liebevoll erzählte Geschichte und unterstützt durch die hinreißenden Illustrationen von Wiebke Rauers wird sie zum einem echten Hingucker.
Martin Baltscheit lädt mit Nur ein Tag auf eine wunderbare Reise ein. Ein Abenteuer für die ganze Familie. Erschienen bei Dressler, 105 Seiten, gebunden, 12,99 Euro (ab 6 Jahre)

114Kleiner Elliot große Stadt von Michael Curato (empfohlen von Claudia)

Seine Liebe zum Schreiben und Zeichnen sei fast so groß, wie die für Eis und Cupcakes, behauptet Mike Curato. Was für ein Glück, dass sich für sein Debüt scheinbar beide Leidenschaften gegenseitig beflügelt haben. Mit dem Kinderbuch „Kleiner Elliot – große Stadt“ schenkt uns der Wahl-New Yorker eine warmherzige Freundschaftsgeschichte von einem Törtchen liebenden Elefanten im New York der 30er Jahre. Es geht um Elliot, einem geradezu winzigen Elefanten, der trotz seines ungewöhnlichen Äußeren nicht gesehen wird. Es scheint als sei er unsichtbar. Immer wieder stellt seine Größe eine Herausforderung da: ob im Trubel der Stadt oder in Alltagssituationen zu Hause. Als Elliot einen Cupcake kaufen möchte, von der Verkäuferin aber übersehen wird, trottet er mit hängenden Schultern durch den Park. Hier trifft er eine kleine Maus. Ein Wesen, das noch kleiner ist als er selbst und dringend seine Hilfe benötigt.
Mike Curatos kleine Geschichte zeigt liebevoll auf, wie wir miteinander umgehen wollen oder sollten, und das, weniger mit großer Wortgewalt als mit einnehmenden, warmen, nostalgisch anmutenden Illustrationen. Hinter der ausdrucksstarken Fassade steckt eine schöne, Mut machende Botschaft: Ist man auch noch so klein, zusammen kann man über sich hinaus wachsen. Erschienen bei FISCHER Sauerländer, 40 Seiten, gebunden, 14,99 Euro (ab 4 Jahre)