Von der Relativität der Zeit
von Sannah Wagner
Es ist Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Lebensbedingungen auf der Erde werden immer härter. Pflanzenkrankheiten und Bodenerosion setzen den Farmern zu. Missernten führen zu Lebensmittelknappheit, die Atmosphäre der Erde verändert sich. Das Ende der Menschheit ist absehbar. Der als Farmer arbeitende Pilot Cooper wird von der im Stillen arbeitenden NASA angeheuert, um eine Gruppe Wissenschaftler auf der Suche nach einem neuen Planeten, der das Überleben der Menschheit sichern soll, durch ein Wurmloch zu führen. Es gab eine erste Mission, welche eine Art Vorauswahl der in Frage kommenden Planeten hinter dem Wurmloch möglich machte. Und auf den Spuren dieser Mission soll nun das Team um Cooper eine endgültige Entscheidung herbeiführen, durch die man das Überleben der Menschheit sichern kann. Cooper ist der einzige Vater auf dieser Mission. Er lässt seinen Sohn und seine Tochter auf der Farm bei seinem Schwiegervater zurück. Er verspricht ihnen, vor allem seiner Tochter, zurück zu kommen. Das ist sein Motor – zurückzukehren und für seine Kinder eine bessere Welt zu ermöglichen.
Nachdem die Mission das Wurmloch passiert hat, stellt sich schnell heraus, dass das Team vor größeren Entscheidungen steht, die weit mehr von den Teilnehmern fordern als auskundschaften, berichten und das Erstellen einer Basis. Auch die Rückkehr scheint bald keine Option mehr zu sein. Dennoch verlieren die Teilnehmer nie ihr Ziel aus den Augen. Währenddessen wird Coopers Tochter Murphy, die den Weggang des Vaters nie verwinden konnte, von dem Leiter der NASA unter die Fittiche genommen und arbeitet mit ihm gemeinsam von der Erde aus daran, die Rettung der Menschheit möglich zu machen.
Der Film „Interstellar“ von Christopher Nolan ist umstritten. Sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus cineastischer Sicht. Es gibt Stimmen, die den Film für überambitioniert, sachlich falsch und/oder überfrachtet halten. Die Einschätzungen schwanken zwischen „Nolans schlechtester Film“ (74% bei Rotten Tomatoes, basierend auf allen bisherigen Kritiken) und einzelner Kritiken die behaupten „der beste Film, den Nolan bisher gemacht hat“ (Variety).
Zugegeben, der Film ist ambitioniert – äußerst ambitioniert. Er verknüpft komplexe wissenschaftliche und philosophische Theorien und Fragen mit den Gefühlen und dem Überlebenswillen einzelner. Und dabei geht es um nichts Geringeres als der Rettung der Menschheit. Doch Nolan schafft es, diese Ambitionen mit Inhalt zu füllen. Besonders spannend ist, wie Physik und Philosophie ineinander greifen, sich aufeinander beziehen, sich in Frage stellen oder aber begründen. Das ist zugegebenermaßen manchmal äußerst komplex und ich ahne, dass ich diesen Teil des Films nach nur einmal Schauen nicht gänzlich erfassen konnte. Doch die Gedanken und Erkenntnisse, die durch den Versuch zu folgen, ausgelöst werden, sind stark und öffnen geistige Türen. Und allein das fühlt sich schon großartig an.
Doch auch die Emotionen finden ihren Platz in dieser Geschichte. Mich hat dabei besonders fasziniert, wie gut es Nolan gelungen ist, die Empfindungen des Einzelnen in den großen Zusammenhang zu bringen. Immer wieder befinden sich einzelne Protagonisten oder auch die Gruppe in der Situation, Entscheidungen von größter Tragweite fällen zu müssen. Und doch ist es kaum einem von Ihnen möglich, eine Wahl, losgelöst von der jeweiligen persönlichen Motivation, zu treffen. Auf diese Weise wird deutlich, dass das Schicksal vieler, jenseits aller wissenschaftlichen Rationalität, durch einzelne Menschen als individuell fühlende Wesen mit einem, auf einen engen Kreis beschränkten, sozialen Empfinden, entschieden wird. Immer wieder. Diese Erkenntnis raubt einem in so mancher Szene fast den Atem. Plötzlich steht das übergeordnete Ganze fast spürbar im Raum und man erkennt, welch profane Argumente zu einer Entscheidung führen könnten.
Christopher Nolan und sein Sohn Jonathan gingen beim Schreiben des Drehbuchs mit der Nachvollziehbarkeit der Thematik sehr sorgfältig um, holten sich mit dem Astrophysiker Kip Thorne einen Berater an die Seite, der ihren Wunsch, die Geschichte so plausibel wie möglich zu erzählen, voll unterstützte. In seinem Buch „The Science of Interstellar“, das er zusammen mit Christopher Nolan schrieb, bezieht Thorne zu allen wissenschaftlichen Aspekten des Films Stellung und teilt diese in „wahr“, „begründete Vermutung“ und „spekulativ“ ein.
Ein ungewöhnlicher Ansatz für einen Hollywood-Blockbuster.Ein Ansatz, den ich persönlich sehr schätze – ist Kino à là Hollywood doch zu oft von extremer Ungenauigkeit und inhaltsarmer Effekthascherei geprägt. In entsprechenden Filmen laufen Menschen schneller als Autos und überleben Explosionen versteckt hinter einem lächerlichen Irgendwas, während alles um sie herum durch die Luft wirbelt und in Flammen aufgeht. Ich nenne das den John-Woo-Effekt. Das ist grenzdebiles Kino.
Nolan hat sich, egal wie üppig Plot und Effekte waren, mit all seinen Filmen bisher von dieser Art Kino distanziert. Für mich ist der Brite jenseits der Dark-Knight-Trilogie einer der besten Regisseure des High-Budget-Films. „Inception“, „The Prestige“ und natürlich „Memento“ sind für mich Highlights des Kinos. Klug, clever, atmosphärisch und dicht erzählt.
Was er jedoch mit „Interstellar“ auf die Leinwand gebracht hat, schlägt in meinen Augen alles bisher gesehene. Als ich ins Kino ging, hatte ich kaum eine Vorstellung davon, was mich erwartete. Mir war nicht mal klar, dass ich dort drei Stunden verbringen würde. Als ich es verließ, hatte ich das Gefühl, eingesaugt worden zu sein, durchgeschleudert und ausgespuckt – und das binnen weniger Minuten. Und dennoch hatte ich auch das Gefühl, ein halbes Leben gelebt zu haben.
Ob beabsichtigt oder nicht, das ist erlebte Relativität der Zeit.
Mag sein, dass manches konstruiert wirkt – vor allem gegen Ende. Mag auch sein, dass das Ende per se als kitschig empfunden werden kann und vermutlich offen besser funktioniert hätte. Aber ich will ehrlich sein, wenn man einen solch dichten, durchdachten, intelligenten Plot serviert bekommt, verpackt in so beeindruckende Bilder, dann empfinde ich diese Art der Kritik als Klage auf sehr hohem Niveau. Werke wie der von der Kritik so gelobte Film „Gravity“ (ein Film voller John-Woo-Momente und Kitsch) oder „Oblivion“ (den ich durchaus gut finde) wirken gegen „Interstellar“ wie Kinderfilme.
In mir persönlich weckt der jüngste Film Nolans nur einen Wunsch: mich vor ihm und seinem Sohn zu verneigen und „Danke“ zu sagen. Danke für ein so großes Stück Kino.
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