von Axel Göttsch

Bartholomew Kettler wünscht sich nur eines: Er möchte so sein wie andere Kinder auch. Er möchte sich auf der Straße sehen lassen können, zur Schule gehen dürfen und mit Freunden spielen. Stattdessen muss er damit rechnen, sollte ihn jemand entdecken, dass er gleich am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden würde. Zwar hat er wenigstens noch dunkles, krauses Haar auf dem Kopf und nicht, wie seine Schwester Hettie, glatte, kahle Äste, trotzdem verraten seine großen, runden Augen und seine spitzen Ohren, das er kein normaler Junge ist. Bartholomew Kettler ist kein Engländer und auch keine Fee. Er ist ein Mischling, ein „Seltsamer“.

Nachdem es Feenwesen gelungen war, ein Portal zwischen ihrer Welt und England zu öffnen, war das Land nicht mehr das, was es einst war. Es kam zwischen beiden Parteien zu einem Krieg, der der „Heilige Krieg“ genannt wurde. Erst waren es die Feen überlegen, denn sie verfügten über Magie. Anstatt Waffen, nutzten sie die Natur. So wurden Vögel geschickt um den Soldaten die Augen auszuhacken, sie riefen den Regen herab, so dass das Schießpulver nass wurde und versetzten Wälder, um so die Karten der Engländer durcheinander zu bringen. Doch am Ende siegten die Engländer. Die Feen wurden von ihnen unterjocht und gezwungen, in ihren Fabriken zu arbeiten.

Eine kleine Stadt namens Bath wurde, während sich das Portal öffnete und später wieder schloss komplett zerstört. Aus Bath wurde New Bath, eine finstere, düstere Stadt, die nun nicht mehr von Menschen, sondern von Kobolden, Irrwichten, Gnomen und anderen Feenwesen bewohnt wurde. Elfen und Feen wurden über die Jahre zu einem Teil der englischen Bevölkerung. Es gab auch eine kleine Elite von Elfen, meistens Hochelfen, die es schaffte, Wohlstand und Ansehen zu erlangen. Einer von ihnen ist der Justizminister John Wednesday Lickerish, der als erster Elf in die britische Regierung berufen worden war.

Nachdem mehrere Mischlingskinder ermordet aus der Themse gefischt werden, gerät eben dieser Justizminister Lickerish in das Fadenkreuz der eigenmächtigen Ermittlungen des Parlamentsabgeordneten Arthur Jelliby. Arthur ist ein ausgesprochen netter junger Mann, der gerne auf Partys geht und sich normalerweise aus den Problemen Anderer heraushält. Doch eine Kette verschiedener Ereignisse veranlasst ihn, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Während er einem Hinweis nachgeht, trifft er auf den verängstigten Bartholomew. Dieser hat erst beobachtet, wie ein Nachbarsjunge, ebenfalls ein Mischling, entführt wurde und später bemerkt, dass auch noch seine Schwester Hettie verschwunden ist. Gemeinsam machen sich Arthur und Bartholomew auf die Suche.

Der Autor Stefan Bachmann bedient sich in Die Seltsamen des Stilmittels des Steampunks. Der Roman spielt im viktorianischen England, welches allerdings von Technik und Mechanik geprägt ist. So gibt es zum Beispiel dampfbetriebene Kutschen, mechanische Pferde oder kleine, metallene, flugfähige Vögel. Quasi „Science-Fiction welches, anstatt in der Zukunft, in der Vergangenheit spielt“, wie es der Autor selbst formuliert. Die Industrialisierung hat natürlich auch ihren Preis. Für die Dampfmaschinen wird so viel Kohle verheizt, dass Großstädte wie London unter einer Glocke aus schwarzem Rauch liegen.

Es hat mich beeindruckt, wie gut es Stefan Bachmann gelungen ist, seine Figuren und die Welt in der sie existieren, zum Leben zu erwecken. Und das nicht nur deshalb, weil er gerade 16 Jahre alt war, als er Die Seltsamen geschrieben hat. Beim Lesen des Buches hatte ich tatsächlich das Gefühl, mich gerade im viktorianischen London zu befinden, in dem es schwerfällt, vor lauter Rauch ordentlich Luft holen zu können. Auch, oder gerade weil diese Geschichte in einer so düsteren, unbarmherzigen Umgebung spielt, ist deutlich zu spüren, wie viel Liebe Stefan Bachmann in seine Figuren gesteckt hat. Vor allem die Darstellung seines Hauptprotagonisten Bartholomew gelingt dem Autor besonders gut. Schnörkellos porträtiert er einen sensiblen, einsamen, schüchternen Jungen und seine Lebenssituation.
Mir drängt sich an dieser Stelle die Parallele zu einem andern tragischen Helden auf: Harry Potter. Ja, ich bin einer von denen, die diese Reihe quasi verschlungen haben. Doch im Gegensatz zu Harry, der zu Beginn des ersten Bandes über 60 Seiten von seiner „Familie“ unterdrückt wird, bevor die eigentliche Geschichte startet, braucht es bei Bartholomew keine zehn Seiten, um dessen Leben zu umreißen. Ich bin mir sicher, dass Harry Potter Fans Die Seltsamen lieben werden, weil dieser Roman der Fantasie einer J. K. Rowling in nichts nachsteht. Ich konnte es kaum erwarten, Stefan Bachmanns Die Wedernoch in die Hände zu bekommen, die Fortsetzung von Die Seltsamen. Zurzeit lese ich diesen Roman mit der gleichen Begeisterung, die ich schon beim Lesen des ersten Teils verspürt habe.

Die Seltsamen ist bereits das vierte Buch, das Stefan Bachmann geschrieben hat. Es ist aber das erste, welches veröffentlicht wurde. Das lag daran, dass das erste, welches nach eigenen Angaben des Autors, der seine Romane in englischer Sprache schreibt, wirklich schlecht, das Zweite etwas weniger schlecht, das Dritte und so weiter war. Es ist seinem Ehrgeiz und der Bestärkung seiner Mutter zu verdanken, dass es zu so einem tollen Roman gekommen ist. Stefan Bachmann schreibt um zu lernen. Wenn etwas nicht gut genug ist, dann muss er es beim nächten mal besser machen, so lautet seine Devise.

Stefan Bachmann gelingt es, mit seinem Debüt Die Seltsamen, seine Leser in eine wunderbar düstere, fantasievolle und doch vertraute Welt zu entführen. Eine Welt, in der sowohl alles als auch nichts möglich ist. Ein Roman über Hoffnung, Mut und Herausforderungen. Ein Buch, das mich von der ersten Seite an gefesselt hat.

Stefan Bachmann ist ein Autor, von dem noch einiges zu erwarten ist. Ich freu mich drauf!

Das Buch:
Die Seltsamen von Stefan Bachmann ist 2014 im Diogenes Verlag erschienen. Von Hannes Riffel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Es hat 368 Seiten und kostet Euro 16,90. ISBN 978-3257068887.

Der Autor:
Stefan Bachmann wurde 1993 in Boulder, Colorado, USA geboren. Bald danach zog er mit seiner Familie, der Vater ist Schweizer und die Mutter US-Amerikanerin, nach Adliswil in die Schweiz. Er und seine vier Geschwister wurden bis zu ihrem High-School-Abschuss von der Mutter zu Hause unterrichtet. Seit seinem elften Lebensjahr studiert er Orgel und Komposition am Züricher Konservatorium. Sein Ziel ist es Filmkomponist zu werden.