Eine Frage der Grenzen
von Sannah Wagner
Die 17-jährige Gesa und der 15-jährige Tom kennen sich flüchtig, als sie 1989 gemeinsam an einem Austauschprogramm ihrer Schule teilnehmen. In Polen vertieft sich die Verbindung der beiden an sich so gegensätzlichen Menschen und eine Freundschaft entsteht.
Die Jahre vergehen. Gesa bleibt in Flensburg, studiert Pädagogik und lebt mit ihrer Jugendliebe Sascha zusammen, mit dem sie, zehn Jahre nach der Polenreise ihr erstes Kind bekommt. Sie ist geerdet, „eingenordet“, in ihrer vertrauten Umgebung eingebunden – so braucht sie es. Tom hingegen, der in Polen seinen „Sound“ als Musiker gefunden hat, entscheidet sich für ein Leben in der Schwebe. Immer unterwegs, zuerst noch mit seinen Bandkollegen aus Schulzeiten. Doch nach einem traumatischen Erlebnis trennen sich ihre Wege und Tom schlägt sich von da an allein als Musiker durch. Für ihn, den Unnahbaren, den In-Sich-Gekehrten, ist Gesa der Fels, das Zuhause, seine Vertraute. Das zwischen den Beiden trotz aller Gegensätzlichkeit von Beginn an etwas Tieferes mitschwingt, wird von beiden geflissentlich übersehen – bis zu Gesas Hochzeit.
Jan Christophersen schildert in „Echo“ anhand von drei Episoden, die sich über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren erstrecken, die Geschichte einer Freundschaft, die von tiefem Verständnis und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Dabei wählt er konsequent Gesas Perspektive, um die Geschichte zu erzählen. Durch sie erfahren wir von Tom, seinem Leben, seinen Reisen, seiner Musik, seinen Ambitionen, die so ganz anders sind als ihre eigenen. Verbunden sind die Beiden durch ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse des Anderen und die Liebe zur Musik. Gesa lernt durch Tom, Musik zu hören. Schon in Polen begreift sie instinktiv, dass der so verschlossene Tom über Klang ausdrückt, was er nicht in Worte fassen kann. Er spürt, dass sie das respektieren kann und öffnet sich ihr, hält Kontakt, sucht ihren Rat. Immer wieder schickt er ihr von unterwegs Postkarten. Gedankenfragmente, die seine Stimme in der Geschichte sind, unkommentiert eingeflochten, mit denen dem Leser ein Tom jenseits von Gesas Wahrnehmung gezeigt wird.
Man fragt sich als Leser jedoch schon sehr früh, ob „Echo“ tatsächlich nur die Geschichte einer Freundschaft ist. Zwischen den beiden Protagonisten schwingt von Beginn an so etwas wie Sehnsucht mit. Eine Sehnsucht, die zum Mythos zwischen zwei Menschen werden kann, wenn sie nicht eingestanden wird.
Tom und Gesa verstricken sich – und in dieser Hinsicht sind sie sich bei aller Gegensätzlichkeit ähnlicher als es ihnen gut tut – darin, dem anderen bloß nicht zu nahe zu treten. Sie lesen aus den Reaktionen und Gesten des anderen heraus, wie er tickt, was man ihm zumuten kann und was man lieber ungesagt lässt. Daraus leiten sie ihr eigenes Handeln ab, und nur noch in mikroskopischen Gesten und Blicken wird aufgezeigt, was möglich sein könnte, wenn nur einer diesen „Pfad der Tugend“ verlassen würde.
Nichtoffenbarte Gefühle – im Grunde ein Klassiker unter den Plots, doch Jan Christophersen erzählt diese Geschichte vielschichtig und mit einem feinen Gespür für die Zwischentöne. Er bedient sich dabei einer Sprache, die unmittelbar mit dem emotionalen Aspekt des Beschriebenen verbunden ist. Knappe Sätze, stakkatoartige Aufzählungen im Wechsel mit verschachtelten Beschreibungen lassen den Leser spüren, was sich die Hauptfiguren nicht einmal selbst eingestehen wollen.
„Echo“ ist ein Buch, das ich mit Spannung gelesen habe. Das mag daran liegen, dass mich Geschichten über Möglichkeiten, ob eingelöst oder nicht, besonders reizen. Der Autor schafft es jedoch darüber hinaus, dem selbst von ihm Ungesagten eine Stimme zu geben und dies in einer Intensität, dass man noch lange, nachdem man die letzte Seite gelesen hat, darüber nachdenkt , Möglichkeiten durchspielt, Gesten neu deutet oder Zusammenhängen nachspürt.
Wer das mag, dem sei dieses Buch wärmstens empfohlen.
Der Autor
Jan Christophersen, 1974 in Flensburg geboren, lebt mit seiner Familie bei Schleswig. Er studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig; sein Roman Schneetage wurde mit dem Debütpreis des Buddenbrookhauses ausgezeichnet.
Das Buch
„Echo“ von Jan Christophersen, erschienen im mare Verlag, 224 Seiten, gebunden, 18 Euro, ISBN 9783866482043
[…] Team der Schweriner Buchhandlung Ein guter Tag – Literatur & so stellt mit »Echo« eine offenbar schöne Geschichte über zwei Menschen vor, die einander nicht […]
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