Vierzig Jahre Schein und Sein
von Sannah Wagner
Als Julie Jacobsen 1974 mit sechzehn nach dem Tod ihres Vaters in das Sommercamp Spirit-in-the–Woods kommt, fehlt ihr das Gefühl der Zugehörigkeit in ihrem Leben. Doch in diesem Sommer wird sie Teil einer kleinen Gruppe, die sich halb ironisch „Die Interessanten“ nennt. Alle Mitglieder stammen aus New York City. Sie, die aus dem kleinen Kaff Underhill am Rande New Yorks kommt, bildet die Ausnahme, wird aber auf Grund ihrer Schlagfertigkeit und ihres Humors in die Gruppe aufgenommen. Das erste Mal hat sie das Gefühl, sich in einem Kreis aus Gleichgesinnten zu bewegen. Alle Mitglieder haben künstlerische Ambitionen. In diesem Sommer wird aus Julie Jules.
Die Freundschaft besteht über das Camp hinaus. Zwischen den Sommern fährt Jules so oft es geht nach New York, um sich mit den anderen zu treffen. Das Labyrinth, wie das Zuhause von Ash und Goodman genannt wird, wird der Treffpunkt der Gruppe und für Jules werden die Wolfs zu einer zweiten Familie – die Familie, die sie ihrer Ansicht nach hätte haben sollen. Die Jahre vergehen. Es folgen Studium und die ersten beruflichen und künstlerischen Gehversuche. Die Gruppe erlebt aber auch erste Prüfungen ihrer Freundschaft und muss den Verlust zweier Mitglieder verkraften. Doch der Kern bleibt bestehen und alle stehen, trotz der unterschiedlichen Wege, die die einzelnen Mitglieder im Laufe der nächsten vierzig Jahre einschlagen werden, weiterhin in engem Kontakt und nehmen Anteil am Leben der anderen.
Meg Wolitzer greift in „Die Interessanten“ unterschiedliche Themen auf. Es geht um die Definition der eigenen Identität – gemessen an den eigenen Möglichkeiten, aber auch im Vergleich zu anderen. Es geht um das Erarbeiten und das Loslassen von Träumen und Vorstellungen seiner selbst. Es geht um Geheimnisse, Moral, Loyalität, Freundschaft und Familie.
Doch Wolitzers Hauptthema ist die Kunst selbst und die beleuchtet sie in all ihren Facetten. Jede einzelne Figur besetzt dabei einen klassischen Archetypus der Kunstszene: Ethan Figman, das Ausnahmetalent, dem nichts geschenkt wird und der, so sehr er seine Familie liebt, doch nur in seiner Arbeit das Gefühl von Vollständigkeit und Sinn findet. Ash, die talentierte Tochter aus gutem Hause, die nie die existenzielle Frage ihres Handelns stellen muss und trotz ihres Talents ihren begrenzten Ehrgeiz hinter der Förderung ihres Mannes versteckt. Jules, deren Drang dazuzugehören eine realistische Sicht auf ihr begrenztes Talent und ihre körperliche Durchschnittlichkeit lange nicht zulässt. Jonah, der Sohn einer berühmten Folksängerin, dessen herausragende musikalische Begabung in seiner Kindheit durch einen Showbiz-Kollegen seiner Mutter missbraucht wird. Kathy, die mit viel Talent und Ehrgeiz gesegnet ist und als Tänzerin an ihrer körperlichen Entwicklung scheitert. Goodman, der Blender, depressiv, geheimnisvoll, intensiv – jedoch ohne spezielles Talent. Und nicht zuletzt Edie und Manny Wunderlich, die Besitzer und Leiter des Camps, die für die Förderung und den Glauben an den Ausdruck und die Kreativität stehen.
Die Tatsache, dass der Roman einen Zeitraum von vierzig Jahren umfasst, erlaubt zusätzlich zu der persönlichen Perspektive der Protagonisten einen Blick auf den Kunstmarkt und dessen Kommerzialisierung im Laufe der Jahrzehnte. Immer wieder fügt Wolitzer Passagen ein, die sowohl die Entwicklung der Stadt New York und ihren Einfluss auf die Kunst zeigen, als auch die sich wandelnden Ansprüche an die Kunst und die Künstler durch die Sammler und Konsumenten. Wolitzer eröffnet dadurch die grundsätzliche Sicht auf ein Thema, welches in seinem kreativen Akt scheinbar individuell und frei ist und doch immer wieder dem Zeitgeist unterliegt.
Stilistisch erinnert „Die Interessanten“ an Autorenkollegen wie Franzen, Eugenides oder Buwalda. Aus wechselnden Perspektiven der dritten Person erlebt der Leser das Scheitern, den Neid und die Selbsterkenntnis ebenso wie den Erfolg und den damit verbundenen fast irrwitzigen Reichtum einzelner Protagonisten, deren Fäden immer wieder voneinander gelöst werden, um an anderer Stelle erneut miteinander verknüpft zu werden.
Ich persönlich liebe solche Geschichten und natürlich war Meg Wolitzer für mich Pflicht. Doch blieb das Buch etwas hinter meinen, zugegebenermaßen sehr hohen, Erwartungen zurück. Einen Zeitraum von vierzig Jahren umreißen zu wollen, ist ehrgeizig. Auf der einen Seite ist das sehr spannend zu lesen, da es ein umfassendes Bild entsteht, auf der anderen Seite fehlte es mir hin und wieder an Tiefe und Intensität. Vor allem in den letzten Jahren.
Dennoch hat es sehr viel Spaß gemacht, „Die Interessanten“ zu lesen. Es ist ein wirklich gutes Buch, das ich unbedingt allen Fans zeitgenössischer amerikanischer Literatur empfehlen möchte.
Die Autorin:
Meg Wolitzer wurde 1959 in Long Island, New York geboren. Sie studierte Kreatives Schreiben am Smith College und an der Brown University und graduierte 1981. Sie ist mit dem Autor Richard Panek verheiratet und hat zwei Söhne. Sie lebt in New York City. 1982 veröffentlichte sie ihren ersten Roman.
Das Buch:
Die Interessanten, erschienen im DuMont Buchverlag 2014, gebunden, 608 Seiten, Preis 22,99 Euro, ISBN 9783832197452
Da haben wir eine ähnliche Einschätzung: Es liest sich gut, aber auch ich fand – sie hat eine Spur zuviel gewollt: http://saetzeundschaetze.com/2014/10/26/wolitzer/
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