von Sannah Wagner

Cal ist 14 Jahre alt, als er von heute auf morgen erwachsen werden muss. Er lebt als Sohn eines Fischers in Loyalty Island, einem kleinen Fischerort auf der Olympic-Halbinsel an der Küste von Washington State.

Loyalty Island – das war der Gestank von Hering, Lackfarbe und fauligem Seetang an Anlegestellen und auf Stränden. Der Geruch von Kiefernnadeln, die sich am Boden braun verfärbten. Das Rumpeln von Außenbordmotoren, von Windböen und Eismaschinen, das Heulen hydraulischer Winschen. Es war graues Dämmerlicht, das morgens und abends kam und ging – wie Ebbe und Flut.

Das Leben dort ist geprägt von der Krebsfischerei. Zur Fangsaison fahren die Männer raus aufs Meer, nach Alaska, und kehren erst ein halbes Jahr später wieder heim. Während die Männer auf hoher See sind, einzelne Gliedmaßen oder auch das Leben aufs Spiel setzen im winterlichen Pazifik, kümmern sich die Frauen darum, dass es an Land weitergeht, allein auf sich gestellt, isoliert vom Rest der Welt, immer auch in der Erwartung schlechter Nachrichten. Dieser Rhythmus prägt die Menschen von Loyalty Island seit Generationen.

Die Zurückbleibenden igelten sich ein. Den ganzen Herbst, den ganzen Winter lebten wir – so kam es uns vor – an der Grenze zum richtigen Leben, das sich woanders abspielte. Es schien, als ob wir die Abwesenden waren, nicht die anderen, dass wir diejenigen waren, die sich verabschiedet hatten.

Doch 1986 droht sich alles zu ändern. John Gaunt, Besitzer der Fangflotte, Inhaber der Fischereirechte und der verarbeitenden Industrie vor Ort, stirbt. Richard, sein einziger Sohn, wird Universalerbe. Doch Richard denkt nicht daran, dass Erbe seines Vaters fortzuführen. Die Beziehung zu seinem Vater und seiner Heimat ist von Hass geprägt. Er hat in seinem ganzen Leben keinen Fuß auf ein Fischerboot gesetzt. Als die Fischer, deren Boss Richard nun ist, erkennen, dass dieser ihnen droht, durch den Verkauf der Fangrechte die Existenzgrundlage zu entziehen, sehen sie sich gezwungen zu handeln.

Nick Dybek hat in meinen Augen mit „Der Himmel über Greene Harbor“ ein unglaublich gutes Buch geschrieben. Vielschichtig sind die Themen: Erwachsenwerden, Väter und Söhne, Loyalität, Freundschaft, Verantwortung, moralische Integrität und die Frage, wie weit man als Einzelner, aber auch als Gemeinschaft gehen würde, um die Existenz zu sichern.

Konsequent erzählt er die Geschichte aus der Sicht des 14-jährigen Cal, Sohn eines der Skipper. Ein Kniff Dybeks, den ich aus unterschiedlichen Gründen großartig finde: Er erlaubt damit dem Leser eine unschuldige Sicht auf die Vorgänge. Es sind lediglich Puzzleteile – Gespräche, die Cal belauscht, Erlebnisse und Beobachtungen – die ein Bild der Vorkommnisse ergeben. Ob dieses Bild mit den tatsächlichen Geschehnissen übereinstimmt, welche Entscheidungen wer getroffen hat und wohin genau diese führen, man weiß es nicht. Die Dinge entwickeln sich, sie widerfahren Cal, denn sein Leben wird natürlich noch von den Handlungen der Erwachsenen bestimmt – er muss die Konsequenzen tragen.

Doch ein 14-Jähriger fängt an, sich eigene Gedanken zu machen, sich von seinen Eltern zu distanzieren und ihre Handlungen zu hinterfragen. Und so beginnt auch Cal seinen eigenen Weg auszuloten.

Offensichtlich war mir klar, dass es für mich ein Leben jenseits von Loyalty Island geben könnte. Ich hatte nur keine Ahnung, wie anders die Welt auf der anderen Seite des Pudget Sounds und des Kaskadengebirges aussah. Mir war nicht klar, was es bedeutete, in Loyalty Island zu bleiben und mir einen Platz auf den Schiffen bei meinem Vater zu erarbeiten. Es hieß nicht etwa, alles erreicht zu haben – es bedeutete vielmehr, unermesslich viel verpasst zu haben.

Bemerkenswert ist für mich, wie glaubwürdig und sensibel Dybek diese Entwicklung schildert. Die Aufsässigkeit, die Herzlosigkeit gegenüber der Mutter, die einen selbst überrascht, der Trotz aber auch die Verwirrung – der Wunsch, das Richtige zu tun und die Erkenntnis, nicht mehr sicher zu wissen, was das Richtige ist. Für 320 Seiten war ich wieder 14 Jahre alt.

Aber jenseits davon hat mich vor allem Dybeks sprachliche Wucht beeindruckt. Die Art, mit der er das Leben der Fischer beschreibt, die Entbehrungen, die Gefahren, aber auch die Gründe dafür, all das immer wieder aufs Neue auf sich zu nehmen. Man riecht das Salz, hört die Möwen über sich kreischen, rast mit dem Krabbenkorb in die Tiefe, wird von einem Brecher über das Deck geschleudert.

Wenn sie arbeiten, gibt es weder Tag noch Nacht. Keine Zeit zu essen, keine Zeit zu schlafen, keine Arbeitszeit, keine Zeit zu spielen, keine Ruhezeit. Es ist alles eine einzige große Schmiere. Sie haben alles plattgemacht, die Zeit zerfetzt. Aber sie machen alles gemeinsam. Ich glaube, das ist es, was Liebe bedeutet, dieses Ding, das Zeit zerstört. Man braucht keine Zeit mehr.

Mit „Der Himmel über Greene Harbor“ hat Nick Dybek ein Debut geschrieben, das alles hat, was eine gute Geschichte haben muss  – es ist spannend, überraschend, vielschichtig, sensibel, klug. Herausragend wird dieses Buch aber für mich durch die sprachliche Eindringlichkeit, die Intensität seiner Beschreibungen. Ich habe keine Ahnung, wie oft ich die Luft angehalten, geseufzt oder Laute der Überraschung oder des Schrecks von mir gegeben habe. Außerdem gelingt Dybek eine thematische Tiefe und Vielfalt ohne das Buch zu überfrachten. Nachdem ich die letzte Seite gelesen hatte, dachte ich noch Tage lang über die Geschichte nach.

„Der Himmel über Greene Harbor“ ist eines der ganz wenigen Bücher, das ich noch einmal lesen möchte. Zu sagen „Unbedingt Lesen!“ reicht nicht. Ich gehe soweit und sage, ein Verlust für jeden, der es nicht liest.