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von Sannah Wagner

Manche Bücher verlangen dem Leser viel ab. Man nimmt sie in die Hand, beginnt in ihnen zu blättern, bleibt an einzelnen Textpassagen hängen und spürt, es wird nicht leicht werden. Dennoch übt das Geschriebene eine Faszination aus, die verhindert, dass man das Buch weglegt. Dann, immer wieder während des Lesens, fragt man sich, warum tue ich mir das an? Und wenn man die letzte Seite gelesen hat, das Buch schließt, ist man auf eine Art erschüttert, die tief geht. Man streicht nicht über den Buchrücken, mit dem Gefühl einen neuen Freund kennengelernt zu haben. Vielmehr hat man das Gefühl, etwas Dunklem begegnet zu sein.

Zugegeben, solche Bücher sind selten und was ich hier beschreibe, ist absolut subjektiv, doch „Die Farbe der Nacht“ von Madison Smartt Bell ist für mich ein solches Buch.

Der Plot: Mit 16 reißt Mae von zu Hause aus und landet in San Francisco. Es ist der Höhepunkt der Hippiebewegung. Sie gerät in die Fänge der Sekte „das Volk“. Der Anführer D. lässt sich mit seinen Anhängern in einer Region nördlich von L.A. nieder. Von dort aus führt er „das Volk“ in einen Kreislauf aus Raub, Drogen, Orgien, Prostitution und Gewalt. Dort lernt Mae auch Laurel kennen. Sie werden ein Paar. Mae und Laurel bringen ihre eigenen Geschichten aus erfahrener und verübter Gewalt mit und sie folgen D. und seinem Partner O. auf deren immer brutaler werdenden Pfad. Als die Situation auf verschiedenen Ebenen eskaliert, schaffen es die beiden, zu fliehen, doch ihre Wege trennen sich. Dreißig Jahre später entdeckt Mae Laurel im Fernsehen. Sie erkennt sie, als diese auf einer Straße in New York kniend, vom Staub der eingestürzten Türme bedeckt, die Hände gen Himmel reckt. Und alles holt sie wieder ein.

„Die Farbe der Nacht“ geht in vielerlei Hinsicht an die Grenzen des Vorstellbaren und auch des Erträglichen. Das Grundthema ist Terror. Bell spiegelt den Terror auf drei Ebenen. Im vermeintlich geschützten Raum der Familie, innerhalb einer Sekte und als ultimativen Anschlag. Im Zentrum dieser drei Ebenen steht Mae. Sie ist Täter und Opfer zugleich. Bell lässt ihre Geschichte wie ein Film vor den Augen des Lesers ablaufen. Dabei wechselt er in kurz gehaltenen Episoden immer wieder die Zeitebenen und die Orte. Was sich zunächst verwirrend liest, ergibt schnell Sinn. Es ermöglicht dem Leser, Mae und die Geschehnisse um sie herum in ihrer gesamten Komplexität wahrzunehmen. Die Wurzeln ihres Verhaltens stehen direkt neben den Konsequenzen und den daraus resultierenden Handlungen ohne dass sie direkt aufeinander bezogen werden. Tatsächlich liegen teilweise Jahre und Jahrzehnte dazwischen. All das ergibt jedoch am Ende das dichte Bild einer gestörten, kaum fassbaren Persönlichkeit.

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Sprachlich lässt der Autor durch szenische Beschreibungen dichte, intensive Bilder vor dem inneren Auge des Lesers entstehen. Ihm gelingt dabei eine äußerst anschauliche Darstellung der jeweiligen Zeit und des entsprechenden Landstrichs. Auf diese Weise webt er die persönliche Geschichte der Mae in einen gesellschaftlichen Kontext und spürt so, ohne es konkret zu benennen, auch der Entwicklung der USA nach. Die Sprache gleitet dann ins Verschlüsselte ab, wenn Drogen und/oder Gewalt das Szenario bestimmen. Man hat jedoch nicht das Gefühl, das Bell sich dahinter versteckt, sich scheut die Details in ihrer Klarheit zu benennen, sondern vielmehr vermittelt er dem Leser einen Eindruck der geistigen Verfassung der Protagonistin. Diese Passagen sind es auch, die einen besonders fordern. Immer wieder fragt man sich, ob das, was man in die Bilder hinein liest, dem Geschehen entspricht oder ob man in die Falle der (Un)tiefen des Geistes der Protagonistin beziehungsweise des eigenen Geistes tappt. Nur Stück für Stück wird der Autor konkreter und erst gegen Ende werden bestimmte Geschehnisse aus der Andeutung heraus gelöst und klar benannt. Diese Art des Erzählens entwickelt einen ganz eigenen Sog. Man hat als Leser das Gefühl, von Bell provoziert zu werden. Wie weit gehst Du als Leser, wie viel hältst Du aus?

Ich habe alles ausgehalten. Ich habe das Buch zu Ende gelesen und ich bin froh darüber. Abgesehen davon, dass das Ende an sich großartig ist und mir noch ein letztes Keuchen entlocken konnte, ist „Die Farbe der Nacht“ tatsächlich äußerst spannend. Bell fordert seinen Leser, zwingt ihn, seine geistige und seelische Komfortzone zu verlassen, um ihn an etwas heranzuführen, dass – hoffentlich – weit jenseits der eigenen geistigen Verfassung liegt. Mir persönlich liegt das, aber man sollte sich fragen, warum liest man, bevor man diesen Roman in die Hand nimmt. Liest man, um sich besser zu fühlen, dann ist dieses Buch sicher nicht das Richtige. Liest man aber, um vielleicht an innere und äußere Orte zu gelangen, die einem im wahren Leben vermutlich verschlossen bleiben werden, dann rate ich, sich diesem Buch zu stellen. Es ist eine Lektion, es ist aber auch Erkenntnis.

Der Autor: Madison Smartt Bell wurde 1957 in Nashville, Tennessee geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Princeton und lebte danach als freier Autor einige Jahre in London und New York. Er lehrte Kreatives Schreiben an verschiedenen amerikanischen Universitäten, u.a. am renommierten Iowa Writers‘ Workshop und der Johns Hopkins University, zurzeit ist er Professor für Englische Literatur am Goucher College in Virginia. Seit 1983 hat Madison Smartt Bell 13 Romane veröffentlicht, bekannt wurde er mit seiner monumentalen, von der Presse gefeierten Roman-Trilogie über die Haitianische Revolution. Er lebt in Baltimore.

Das Buch: Die Farbe der Nacht von Madison Smartt Bell, erschienen bei Liebeskind, 240 Seiten, gebunden, Preis 18,90 Euro, ISBN 978-3954380053