von Sannah Wagner

 

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Eine Truppe italienischer Soldaten wird nach Afghanistan an den kargen Vorposten Gulistan am Rand der Sicherheitszone abberufen. An diesem Ort geben sie jegliche Sicherheit und jeglichen Komfort auf. Der Alltag ist geprägt von Patrouillen, Wacheschieben auf der einen Seite und dem Kampf gegen Langeweile, Eintönigkeit, den Gedanken an Zuhause und dem Bewusstsein, dass die Rückkehr dorthin nicht selbstverständlich ist, auf der anderen Seite. Als es zu einem Sondereinsatz kommt, eskaliert die Situation.

Paolo Giordano erzählt in „Der menschliche Körper“ von der Suche der Soldaten nach einem eigenen Platz – in der Reihe der Kameraden, aber auch im Leben selbst. Er lässt uns an den unterschiedlichen Motivationen und Gedanken der Soldaten teilhaben. Da gibt es Alessandro Egitto, den Militärarzt, der sich selbst mit Tabletten ruhigstellt, der junge Ietri, für den die Reise nach Afghanistan die ersehnte Trennung von seiner Mutter bedeutet, den instinktgesteuerten Cederna, die Soldatin Zampieri, die unbedingt von den Männern akzeptiert werden möchte und den verantwortungsbewussten Zugführer Renè. Wir erfahren durch sie und andere, wie unterschiedlich die Empfindungen und die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit unter dem Druck des Kollektivs sein können und wie wenig davon nach außen dringen darf; was es bedeutet, keinerlei Privatsphäre mehr zu haben, komplett vertrauen zu müssen und sich dennoch fremd zu bleiben. Es entsteht ein komplexes Bild einer in sich geschlossenen Welt, in der die Entscheidungen einzelner das Schicksal vieler bestimmen – und deren Folgen sie alle ein Leben lang mit sich tragen werden.

Mich begeistert an diesem Buch besonders, dass Giordano Charaktere gewählt hat, die so wahrscheinlich mehr oder weniger in jeder Truppe zu finden sind ohne es ihnen jedoch an Komplexität fehlen zu lassen. Er schafft es, das abstrakte Leben zwischen der Ferne eines Krieges im Nirgendwo und der vermeintlichen Nähe zu Heimat und Familie, die durch den sekundenschnellen Knopfdruck des Senden-Buttons auf dem Computer entsteht, greifbar zu machen. Mit seiner klaren, schnörkellosen Sprache, manchmal fast im Nebensatz, erschließt er die persönlichen emotionalen Untiefen Einzelner genauso wie die eines aussichtslosen Krieges, der die Soldaten nicht einmal persönlich berührt.

Natürlich handelt es sich um einen Roman, doch schafft Paolo Giordano es, Einblick in eine Welt zu gewähren, die, zumindest mir, in jeder Hinsicht fremd ist, und die über die gesetzlichen Bestimmungen hinaus ihren ganz eigenen Regeln gehorcht. Meine Empfehlung: Unbedingt Lesen!

Über den Autor:
Paolo Giordano, 1982 in Turin geboren, studierte Physik als er seinen ersten Roman „Die Einsamkeit der Primzahlen“ veröffentlichte. Inzwischen hat er im Bereich Teilchenphysik promoviert und legt mit „Der menschliche Körper“ seinen zweiten Roman vor. Er lebt und arbeitet in Turin. Er wurde unter anderem mit dem angesehenen Premio-Strega-Preis ausgezeichnet.


Das Buch:
„Der menschliche Körper“ von Paolo Giordano, aus dem Italienischen von Barbara Kleiner, erschienen bei Rowohlt 2014, 416 Seiten, Preis 19,95 Euro, ISBN 978 3 498 02525 0